Mai 2024 in Deutschland. Die ganze Welt steht im Zeichen des „Tortured Poets Department“, des jüngsten Albumwurfs von Taylor Superstar. Da könnte man glatt die ein oder andere Ikone vergessen, die ebenfalls zurück ins Scheinwerferlicht drängt: Lenny Kravitz etwa, der mit rund 60 immer noch die Liebe regieren lässt. Die ebenfalls nicht mehr ganz jungen New Kids on the Block oder Jan Delay, der nun auch schon sein 25-Jähriges im Solomusikgeschäft feiern darf. Der Mai ist nicht nur hochkarätig, sondern auch so vielseitig wie sonst nur das Wetter im April. Fragen Sie nur mal Schlagerchamäleon Vanessa Mai oder die Überflieger Twenty One Pilots. Und was „Tortured Poets“ betrifft, möchte auch eine junge Münchner Künstlerin ein Wörtchen mitreden. Wir empfehlen zuzuhören!
34 Jahre ist Taylor Swift erst alt. Und doch bringt sie es inklusive dieses aktuellsten Wurfs bereits auf elf Studioalben – nicht eingerechnet die Neueinspielung ihrer früheren Alben, die sie als „Taylor’s Version“ der eigenen Vermarktungskette einverleibt hat. So hat sie es just zur Jung-Milliardärin gebracht. Und zum Schreckgespenst der US-Republikaner, die hinter ihrem Erfolg eine Verschwörung gegen ihren Präsidentschaftsanwärter vermuten. Der ist zwar mit Sicherheit kein Poet, dürfte sich aber vom millionenfachen Zuspruch für Taylor Swift ebenso gequält fühlen wie ihre Fans von der Tatsache, dass es das Album in mehreren Versionen zu erstehen gibt – jede mit einem eigenen Bonussong. Komplettisten müssen also gleich viermal in die Tasche greifen, wenn sie neben den 16 standardmäßig enthaltenen Tracks auch die Bonussongs „The Manuscript“, „The Bolter“, „The Albatross“ und „The Black Dog“ ihr eigen nennen wollen. Womit wir auch eine Antwort auf die Frage hätten, wie man es möglichst schnell zur Milliardärin bringt. Immerhin: Gastauftritte von Post Malone und Florence + The Machine zeigen, dass sie sich damit noch nicht wirklich unbeliebt gemacht hat.
35 Jahre, nachdem er mit „Let Love Rule“ eine hippieske Soulrock-Revolution ausgerufen hat, macht Lenny Kravitz im schimmernden „Blue Electric Light“ endlich das Albumdutzend voll. Ein Doppelalbum ist es geworden und ein durchdringend hörbares Zeichen dafür, dass er seine Entwicklung längst noch nicht als beendet ansieht – und das, obwohl er sich mit bald 60 (und aussehend wie höchstens 40) langsam dem Rentenalter annähert. Das bereits im Herbst 2023 vorab veröffentlichte Single-Brett „TK421“ vermählte funkige Rock-Riffs mit treibenden Beats und flirrenden Synthesizern, im zugehörigen Video präsentierte sich der Sänger fast so unbekleidet, wie Gott ihn schuf, und gefühlt 20 Jahre jünger, als es ihm das biologische Alter vorschreibt. Aufgenommen in seinen Studios auf den Bahamas, wird auf „Blue Electric Light“ noch einmal all das aufgefahren, was im Lauf von mehr als drei Jahrzehnten Millionen von Fans rund um die Welt begeistert hat: ein einzigartiger Mix aus analogem Retrofeeling, knallharten Riffs und mitreißenden Melodien, der uns sein „Are You Gonna Go My Way“ mit einem bedingungs- und besinnungslosen Ja beantworten lässt.
Ein Vierteljahrhundert deutscher Popgeschichte hat er bereits geprägt mit nasaler Stimme, smarten Reimen, Reggae-Vibes, Hip-Hop-Beats, Funk-Orchester und Soul-Rebellen. Jan Delay hat nach dem Deutschrap-Next-Level-Erweckungserlebnis „Bambule“ früh damit begonnen, andere Seiten seiner musikalischen Persönlichkeit auszuloten. Ob auf der von Rio Reiser inspirierten Suche nach den „Jan Soul Rebels“, beim Chillen mit den „Kindern vom Bahnhof Soul“, in der Disco beim ekstatischen „Mercedes Dance“ oder eher rockig mit „Hammer & Michel“. Jan Delay ist der „King in Seim Ding“. Nur dass das Ding eben ganz viele Dinge ist. Nachzuhören auf der Vierteljahrhundert-Compilation „Forever Jan“, die 25 derbe Jahre in unterschiedlichsten Formen (CD, Deluxe-CD inklusive Best of B-Seiten, Fanbox, Vinyl et cetera pp.) unter das Fanvolk und im Anschluss auf die (Open-Air-)Bühnen der „Rapublik“ bringt. Zwei derbe neue Songs inklusive …
Lange haben es ihre Fans – gemeinhin als Skeleton Clique bekannt – vermutet, mit „Clancy“ haben es die Twenty One Pilots endgültig bestätigt: Die mittlerweile beide 35-jährigen Tyler Joseph und Josh Dun sind Teil einer groß angelegten „Lore“, einer Geschichte, die die beiden Musiker rund um ihre Alben „Blurryface“, „Trench“, Scaled and Icy“ und jetzt „Clancy“ gesponnen haben. Demnach ist „Clancy“ das Alter Ego von Frontmann Joseph, der auf dem Kontinent Trench in der Hauptstadt Dema von neun Bischöfen gefangen gehalten wird und immer wieder zu entkommen sucht. Sinnbildlich steht das Ganze für die emotionalen Depressions- und Stresszustände, denen er zu entfliehen versucht und die in Hits wie „Stressed Out“, „Heavydirtysoul“, „Choker“ oder „Shy Away“ ihren Ausdruck fanden. „Clancy“ nun soll die Erzählung zu ihrem vorläufigen Höhepunkt bringen: Mit Prodigy-artigen Big Beats („Overcompensate“), College-Rock („Next Semester“) und mit dem treibenden Mix aus Hip-Hop, Pop und Alternative, der sie zu echten Stadionfüllern hat werden lassen. Nachzuerleben auf der anstehenden Welttournee, die sie 2025 auch nach Deutschland führt.
Als Euphemismus bezeichnet man eine beschönigende Beschreibung. Etwa dann, wenn sich über 50-Jährige noch als „Kids“ bezeichnen. Wie zum Beispiel die New Kids on the Block, die eigentlich alles sind. Nur keine Kids mehr. Oder neu. Elf Jahre ist es her, dass man das letzte Album von ihnen zu hören bekam. Und weil die Geldflüsse langsam wieder versiegen, kramt man noch einmal den Jungbubencharme samt zugehörigen Choreos hervor, um mit „Still Kids“ die alte bzw. (charmanter) ehemalige Fanbase zu beglücken. Die dürfte sich vor allem in ihrer Nostalgie getriggert sehen. Trotzdem bezeichnet Donnie Wahlberg das Album als das reifste, das sie je gemacht haben. Gleichzeitig eine Großpackung an unkompliziertem Spaß, der auch in der Vorabsingle „Kids“ zum Ausdruck kam. Ansonsten dominieren 80es- und 90es-Vibes: Nicht umsonst sind auch einstige Größen wie DJ Jazzy Jeff (ohne Fresh Prince) und Rockröhre Taylor Dayne auf dem Album zu hören.
Dass sie als Schlagersternchen und Andrea-Berg-Schwiegertochter nie zu 100 % glücklich war, hat Vanessa Mai in den vergangenen Jahren schon öfter deutlich gemacht. Auf ihre ersten Kollaborationen mit deutschen Rappern wie Olexesh und Electropoppern wie Stereoact erschien 2022 auch dem Titel nach die „Metamorphose“ der Sängerin, der kurz darauf die wohl letztmalige Rückkehr zu ihrem Ursprung mit Wolkenfrei folgte. Soll keiner behaupten können, Frau Mai sei nicht vielseitig. Das unterstreicht sie nun mit dem Album „Matrix“, das verdeutlichen soll, dass sie sich wirklich in ihrer ganz eigenen Welt bewegt. Einer Welt, in der Pop und Schlager ohne Scheu nebeneinander existieren können und in der Vanessa Mai endlich nur noch das tun darf, was ihr gefällt. Dass das auch für ihre Fans gilt, darf als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Hauptsache, sie folgen Vanessa per roter oder blauer Pille in den musikalischen Kaninchenbau nach.
Anne Erin Clark, weithin als St. Vincent eine musikalische Ausnahmeerscheinung, ist nicht zu fassen. Zunächst Teil der psychedelischen The Polyphonic Spree, später der Tourband von Sufjan Stevens, begab sie sich von 2007 an auf Solopfade, die verschlungener kaum sein könnten. Von Soundtrackbeiträgen zur „Twilight“-Trilogie führte sie ihr Weg über bislang sechs Soloalben, von denen drei den Grammy als bestes Alternative-Album abräumten. Zuletzt für „Daddy’s Home“, das auch in Deutschland höhere Chartregionen erklimmen konnte. Mit „All Born Screaming“ schlägt die Ex-Freundin unter anderem von Topmodel Cara Delevingne und Schauspielerin Kristen Stewart ein weiteres Kapitel in ihrer Karriere auf. Als „post-plague pop“, also postpandemisches Album, bezeichnete sie selbst ihr siebtes Album, auf dem unter anderem auch Dave Grohl von den Foo Fighters und Cate Le Bon zu hören sind. Musikalisch ähnele es „einem langen Spaziergang allein im Wald“ – was laut Clark härtere Rocktöne (etwa „Broken Man“) nicht ausschließt. Im zugehörigen Video (und auf dem Albumcover) geht sie in Flammen auf. Gut möglich, dass man auch bei den Grammys wieder für das Album brennt.
Die junge Münchnerin Malva macht mit ihrem musikalischen Sidekick Quirin Ebnet seit einem guten Jahr das, was sonst eigentlich keine macht im deutschsprachigen Musikgeschäft: rauchig-elfenhaften Kellerchanson mit starkem Lana-Del-Rey-Einschlag. Zwischen Großstadttristesse, Kaffee, Zigaretten, Rotwein und Sex sucht sich Malva dabei ihren Weg durch „Das Grell in meinem Kopf“, dem sie mit „A Soft Seduction Daily“ nun Album Nummer zwei gegenüberstellt. Noch etwas selbstsicherer ist das Auftreten nach den begeisterten Kritikerreaktionen auf das Albumdebüt, noch etwas verschlungener sind die musikalischen Pfade durch das Unterholz von Indiepop, Chanson und Jazz. Zumal die Fragilität des Erstlings hier auch mal treibender Discomucke („Electric“) Platz machen darf und Sänger wie Jesper Munk oder der Österreicher Oskar Haag zusätzliche Noten in den Malva-Kosmos einbringen dürfen. Der mäandert wie gehabt zwischen deutsch- und englischsprachigen Poesievignetten und dürfte das Duo endgültig als neuen Indiepop-Fixstern in Deutschland etablieren.